St. Elisabeth und St. Michael bitten zu Tisch
Oft wird die Frage nach dem (Hinter-)Grund des Engelbert-Dollfuß-Reliefs in der Turmkapelle von St. Michael gestellt, gilt doch der ehemalige österreichische Bundeskanzler (1932-1934) und Begründer des austrofaschistischen Ständestaates allgemein als umstrittene Persönlichkeit. – Auf der Suche nach Klärung findet sich eine inspirierende Geschichte.
Text: Martin Kolozs
In den Unterlagen des Provinzarchivs der Salvatorianer in Wien findet sich unter dem Schlagwort „Dollfuß“ kein Hinweis auf die Gedenkplatte in der Turmkapelle mit der stilisierten Lourdesgrotte, welche immer wieder für Aufregung und manches Mal für Sachbeschädigung gesorgt hat. Dafür jedoch förderten die Nachforschungen eine andere faszinierende Geschichte zutage, die eng mit dem sozialen Engagement der Seligen Hildegard Burjan (1883-1933) und dem ersten Pfarrer von St. Michael, dem damaligen Pater Provinzial Theophilus Muth SDS (1870-1939), zusammenhängt.
In einem maschinengeschriebenen Brief vom 28. April 1934, der zusammen mit einem schmalen Konvolut anderer Schreiben an Pater Theophilus aufbewahrt wurde, bedanken sich die Damen Alwine Dollfuß (1897-1973) und Irmgard Domanig (geb. 1887)1 im Namen der so genannten „Winterhilfe-Aktion“ mit den Worten:
„Mit Beendigung unserer Aktion ‚St. Elisabeth-Tisch‘ ist es uns ein Bedürfnis, Ihnen, hochwürdigster Herr P. Provinzial, für die Gastfreundschaft, die Sie uns gewährt haben, zu danken. Die Räume haben sich als ganz besonders zweckentsprechend erwiesen und wir freuen uns sehr, von Ihrer Güte im kommenden Winter wieder Gebrauch machen zu dürfen.“ 2
Ganz ähnliche Dankesschreiben aus den Jahren danach geben Aufschluss darüber, dass der „St. Elisabeth-Tisch“ der „Sozialen Hilfe“, der von Beginn an unter dem Ehrenschutz von Kardinal-Erzbischof Theodor Innitzer (1875-1955) stand, kein Einzelfall in St. Michael blieb, sondern bis wenigstens 1937 hier einen festen Platz hatte3, und von Frauen im „freiwilligen Arbeitsdienst“ betreute wurde, welche sich in ihrem Engagement am großen Vorbild der Gründerin der Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis (1919) orientierten:
„Zu Beginn der dreißiger Jahre war die Not des Mittelstandes, angebahnt durch Inflation und weitverbreitete Arbeitslosigkeit, sehr bedrückend geworden. Frau Hildegard [Burjan] suchte nach Möglichkeiten, den Betroffenen im Winter 1930/31 wirksam zu helfen, und führte deshalb in Wien den ‚Elisabeth-Tisch‘ [sic!] für arme Mittelständler, Künstler und Angehörige freier Berufe ein. […] Mit Hilfe eines Kreises begeisterter Mitarbeiterinnen vermittelte Frau Burjan für 3000 Arme täglich warmes Mittagessen in freundlichen Räumen, bei gedeckten Tischen, besonders während der Kältemonate. […] Schließlich gab es 26 solcher ‚Tische‘, auf verschiedene Bezirke Wiens aufgeteilt. ‚Tische‘ mit 40 bis 60 Personen.“4
In einem Bericht von Irmgard Domanig, welche, nach dem Tod von Hildegard Burjan, gemeinsam mit der nunmehrigen Bundeskanzlergattin Alwine Dollfuß die Leitung des „St. Elisabeth-Tisches“ übernommen hatte, liest man über die Anfangszeit der Aktion:
„Etwa eine halbe Stunde vor Beginn der Mahlzeit wird es in den Räumen des Elisabeth-Tisches lebendig. Bisher war seit dem frühen Morgen die Köchin mit ihrer Helferin Alleinherrscher bei den ungeheuren Töpfen, die da auf dem großen, eigens konstruierten Sparherd dampfen und prasseln. […] Nun kommen die Helferinnen: eine pensionierte Fachlehrerin, eine Fabrikantengattin, die Frau eines Gesandten einer ausländischen Großmacht, die eines aktiven Ministers – alle im schlichten Kleid, fröhlich rüsten sie eine Servierschürze um und dann geht es gleich ans Tellerschleppen, Besteckausteilen, Papierserviettenfalten, Brotschneiden, Wasserholen, jede für ihren Tisch. Noch fehlt eine Viertelstunde zur Essenszeit und schon schieben sich die ersten Gäste zur Tür herein – ein bisschen verschämt, sie haben es nicht gerne, dass man ihnen anmerken könnte, wie sie den ganzen Vormittag in ihrer eisigen Stube auf den Augenblick gewartet haben, wo sie sich wohlig einwärmen können. Und jetzt ein neugierig-hungriger Blick auf die liebe schwarze Tafel, die das Menü kündet: Kartoffelsuppe, Hirschbraten und Makkaroni – man muss heftig schlucken und schnell wegsehen – die hungrigen Augen verraten sich sonst gar zu sehr.“5
Solcherart wurde über ein knappes Jahrzehnt unmittelbare Hilfe am Nächsten geleistet und beispielgebend im Jahr 1937 „526.103 vollständige Mittagsmahlzeiten verabreicht […] Es wurden dabei verarbeitet: 196.558 kg Lebensmittel, davon 50.000 kg Fleisch, Würste, Fleischkonserven; 7000 kg Schmalz, Butter, Öl; 5.000 kg Gries, 6.000 kg Reis, 7.000 kg Teigwaren, 11.000 kg Mehl, 82.000 Eier, 4.000 l Milch, 43.000 Leibe Brot, 9.200 Striezel, und außerdem für 60.000 [Schilling] Lebensmittel wie Frischgemüse u. dgl., welche die einzelnen Küchen direkt besorgten.“
Eine dieser Küchen, die für den „St. Elisabeth-Tisch“ gekocht und damit einen wichtigen Beitrag für die soziale Wärme in ihrer Zeit geleistet hat, war in den Räumen von St. Michael beheimatet, wie wir jetzt wissen. – Was es mit dem Dollfuß-Relief in der Turmkapelle auf sich hat, soll an anderer Stelle noch geklärt werden.
1 Später: Irmgard Burjan-Domanig; hat nach dem Tod von Hildegard Burjan (1933) deren Gatten Alexander Burjan (1882-1973) geehelicht und u. a. die erste Biografie über die Gründerin der Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis (CS) verfasst.
2 Wien I, St. Michael, Archiv der Österreichischen Pro-Provinz der Salvatorianer (asa), ZA II
3 Vgl. Ordensnachrichten, Heft 72, Juni 1974, S. 243: „Erst das nationalsozialistische Regime machte dieser segensreichen Einrichtung ein Ende. Am 27. April 1938 nahm man vom ‚St. Elisabeth-Tisch‘ der ‚Sozialen Hilfe‘ für immer Abschied.“
4 (1) Ebd. und (2) Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 16. November 1931, S. 5: „Menschen, die bisher keine Unterstützung erhielten, nirgends Hilfe erwarten durften. Denn die zerschlissenen, aber immer noch an bessere Zeiten gemahnende Kleider dieser Leute haben ihnen die Türen der Wohlfahrtsinstitute versperrt. Sie hatten zu viel verloren, um leben zu könne, und zu wenig verloren, um zu verhungern. […] Hier erhalten sie täglich für zwanzig Groschen [circa 60 Euro-Cent] ein warmes Mittagessen.“
5Soziale Hilfe, 9. Jg., Jänner-April 1932, Nr. 1, S. 3
Bildinformation
1. Unter Mithilfe von Salvatorianer P. Theophilus Muth konnte die Aktion „St. Elisabeth-Tisch“ von Hildegard Burjan auch in der Pfarre St. Michael verwirklicht werden.
2. Hildegard Burjan
3. Küche des Elisabethtisches in der Vereinsgasse, 1930/31
Bildnachweis
1. Archiv der Österreichischen Pro-Provinz der Salvatorianer (asa), Personalakt, asa-04.2
2. und 3. Archiv der Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis, 1090 Wien
Literatur
- Sr. Ulrike Musick SDS, 105 Jahre Soziales Engagement in der Pramergasse, in: Archiv-Publikation der österreichischen Provinz der Salvatorianerinnen, 2012/1
- Irmgard Burjan-Domanig, Hildegard Burjan – Eine Frau der sozialen Tat, Eigenverlag der Caritas Socialis, 1966
- Prof. Ingeborg Schödl u. Sr. Karin Weiler CS (Red.), Hildegard Burjan – Mit Spannung leben, Biografie/Kleinschrift der Caritas Socialis, Wien, 2019
Dieser Artikel ist in veröffentlicht in: die Salvatorianer, 1-2020, S. 16-17