Wir mussten alles zurücklassen
Nataliia (29) mit ihren Kindern Maria und Alexander und Zhanna (32) mit ihrer Tochter Anna stammen aus der Westukraine, aus einer kleinen Stadt ca. 30 Kilometer von Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, entfernt. Von Beruf ist Nataliia Computer-Programmiererin und studierte Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie hat bereits vor ihrer Flucht nach Österreich ein wenig Deutsch gesprochen, spricht es mittlerweile sehr gut und arbeitet hier in Österreich in einer Sprachschule. (Das Interview wurde zum besseren Verständnis nur ein wenig sprachlich geglättet.) Zhanna ist studierte Tierärztin und hilft im Haushalt der Pfarre mit; sie lernt gerade Deutsch. Das ist auch der Grund, warum sie bei diesem Interview Nataliia sprechen lässt. Die Kinder gehen in Wien in die Volksschule bzw. in den Kindergarten. Sie haben sich gut eingelebt und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.
Willkommen in Österreich. Und danke, dass ihr zu diesem Interview bereit seid. Wie geht’s euch hier?
Nataliia: Danke, es geht uns hier sehr gut.
Wie habt ihr den Kriegsbeginn erlebt?
Nataliia: Wir sind schon bald nach Kriegsbeginn geflüchtet. Wir haben keine Soldaten gesehen, aber wir wollten wegen der Kinder kein Risiko eingehen. Also packten wir alles Mögliche zusammen, setzten uns ins Auto und sind losgefahren.
Und eure Männer?
Nataliia: Sie mussten zurückbleiben. Männer durften nicht ausreisen, mittlerweile auch keine Frauen mehr.
Habt ihr Kontakt zu ihnen?
Nataliia: Ja, wir telefonieren jeden Tag mit ihnen. Mein Mann ist Schuldirektor, er passt auf seine Schüler auf. Zhannas Mann arbeitet im medizinischen Bereich.
Wie geht es ihnen?
Nataliia: Gut. Noch. Aber der Krieg ist nicht zu übersehen. Vor zwei Wochen hat in der Nähe unserer Stadt eine Bombe eingeschlagen, die ein großes Feuer verursacht hat. Und wir machen uns große Sorgen. Wir mussten unsere ganze Familie zurücklassen, unsere Eltern, unsere Großeltern, unsere Freunde. Wir hatten in der Ukraine ein schönes Leben, eine gute Arbeit, eine nette Wohnung … Wir mussten alles zurücklassen.
Wie verlief dann die Flucht?
Nataliia: Wir sind mit dem Auto losgefahren, immer mit der Angst, dass etwas passieren kann. Wir haben im Auto geschlafen, es war in der Nacht sehr kalt. Am 17. März sind wir nach Wien gekommen.
Und anschließend meldete ihr euch bei den Behörden …
Nataliia: Wir meldeten uns im Austria International Center, das ist am Bruno-Kreisky-Platz im 22. Bezirk. Da ist ein Beratungszentrum für geflüchtete Menschen aus der Ukraine eingerichtet. Dort haben wir unsere Aufenthaltsbestätigung erhalten. Dann meldeten wir uns beim Österreichischen Integrationsfonds, wo wir Unterstützung erhielten, damit Zhanna Deutsch lernen kann. Der Integrationsfonds bietet nämlich Deutschkurse an.
Wie ging’s dann weiter?
Nataliia: Wir suchten uns dann eine kleine Unterkunft. Wir wohnten zuerst bei einer Familie im neunten Bezirk, aber das war von Anfang an nur eine Notlösung.
Wie seid ihr zur Pfarre Christus am Wienerberg gekommen?
Nataliia: Zufällig. Wir haben überall herumerzählt, dass wir eine Unterkunft suchen, und so hat es sich ergeben, dass es sich bis P. Johannes herumgesprochen hat.
P. Johannes (hörte bisher dem Gespräch schweigend zu): Wir wurden gefragt, ob wir Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen könnten. Und wir haben „Ja“ gesagt, wir haben Kapazität für eine Familie.
Nataliia: Zhanna und ich haben uns die kleine Wohnung hier angesehen, und wir sind sofort geblieben.
Also gefällt es euch hier?
Nataliia: Ja, sehr. Die Leute hier in der Pfarre sind sehr nett und hilfsbereit. Und die Kinder haben einen kleinen Garten zum Spielen. Wir haben hier alles und fühlen uns sehr wohl.
P. Johannes: Sie führen hier ein sehr strukturiertes Leben. Nataliia hat aktiv nach einem Job gesucht und schon bald einen gefunden. Sie geht Montag bis Samstag arbeiten. Derweil kümmert sich Zhanna um die Kinder und um den Haushalt, kocht, putzt und hilft auch in der Pfarre mit. Am Abend wird dann gemeinsam gekocht und mit den Kindern gespielt. Also dafür, dass sie in der Fremde leben und erst so kurze Zeit hier sind, haben sie sich sehr gut akklimatisiert. Am Wochenende machen sie gemeinsam Ausflüge.
Nataliia: Zhanna und ich haben uns den Kulturpass besorgt, und wir waren schon im Kindermuseum, im Belvedere, in der Hofburg und in Schönbrunn. Wir haben viele Fotos gemacht. Am Wochenende machen wir Programme für die Kinder.
Apropos: Wie geht’s den Kindern?
P. Johannes (lacht): Sie sind eh schon halbe Österreicher!
Nataliia: Den Kindern geht es gut. Sie erhalten sehr viel Unterstützung von allen Lehrerinnen und Lehrern. Sie geben uns Hausaufgaben, und wir haben ein Buch mit ukrainischen und deutschen Übersetzungen. So lernen wir täglich mit den Kindern die deutsche Sprache. Wir buchstabieren Wörter, und die Kinder schreiben sie nieder.
P. Johannes: Das ist schon eine großartige Leistung. Man darf nicht vergessen, sie verwenden ja auch eine andere Schrift.
Wie geht’s jetzt weiter? Was erhofft ihr euch für die Zukunft?
Nataliia: Dass es den Kindern weiterhin gut geht. Dass ich meine Arbeit behalte. Mein Vertrag läuft Ende des Jahres ab. Zhanna muss noch weiterhin Deutsch lernen; dann hofft sie, dass sie vielleicht einige Prüfungen machen kann, damit sie hier in Österreich als Tierärztin arbeiten darf.
Das klingt nicht danach, dass ihr glaubt, der Krieg in der Ukraine kommt bald zu einem Ende.
Nataliia: Ich weiß nicht, wie lange der Krieg dauern wird. Vielleicht ist in einem Monat schon alles vorbei, aber ich denke, so schnell wird er nicht enden. Natürlich hoffen wir, dass unseren Männern, unseren Familien nichts passiert. Wenn wir mit ihnen telefonieren, erzählen sie uns, wie die Situation bei ihnen zu Hause ist. Das klingt nicht gut; sie wissen nicht, was der nächste Tag bringt, aber diese Ungewissheit ist auch schon wieder fast normal. Bald kommt auch noch der Winter, und diese Zeit wird auch schlimm. Und selbst wenn die Russen morgen abziehen, das Land liegt wirtschaftlich am Boden. Ich denke, wir werden hier noch eine Weile bleiben müssen, allein schon wegen der Kinder.
P. Johannes: Hier könnt ihr bleiben, solange ihr wollt. Ihr habt keinen Zeitdruck.
Nataliia: Wir werden wieder zurückgehen; wir werden wieder in unsere Heimat und zu unseren Familien zurückkehren. Aber wann das ist, das weiß niemand.
Das Interview führte Robert Sonnleitner. Die Zeichnungen stammen von Maria, Alexander Anna.
Der Artikel stammt aus der Ausgabe 2/22 von "die Salvatorianer".